Äußerst interessanter Bericht, wie ich finde. Das zeigt wieder einmal, daß sich Österreich in einer
Endlosschleife aus Mißwirtschaft, Korruption, kurzfristigen Verbesserungsmaßnahmen im Sinne von
Anlaßgesetzgebung, Mißwirtschaft, Korruption, kurzfr .... und so weiter und so fort, befindet.
Interessant auch vielleicht für die Jüngeren von uns, die diese Äre nicht aus persönlicher Erfahrung
kennen:
"Modell Österreich - abgewirtschaftet
Wie eine sichere Insel lag Bruno
Kreiskys Musterland in einer krisengeschüttelten Welt. Nun hat auch das Modell der österreichischen
Sozialisten abgewirtschaftet, lassen Pleiten, Korruption, Staatsverschuldung und Arbeitslosigkeit im
bislang glücklichen Österreich Endzeitstimmung aufkommen. Dennoch empfiehlt sich "Kaiser Brunos" müde
Mannschaft für die Wahlen 1983 als "die bessere Partei für schlechte Zeiten".
Noch im
Frühling 1981 fühlte sich die Regierung in der ehemaligen Kaiserstadt Wien als Nabel der europäischen
Sozialdemokratie. "Wir sind das einzige Land mit einer absoluten SP-Mehrheit", hämmerte Karl Blecha,
Vizechef der Sozialistischen Partei Österreichs (SPÖ), den Genossen ein. "Erfolg oder Mißerfolg des
österreichischen Weges wird daher als Erfolg oder Mißerfolg der Sozialdemokratie schlechthin beurteilt
werden."
Inzwischen ist dem demokratischen Sozialismus andernorts Aufwertung widerfahren: Auch
in Frankreich und Griechenland sind linke Regierungen am Ruder, die sich auf mehr als 50 Prozent der
Parlamentssitze stützen.
Österreich hat somit zumindest einen Teil seiner Einzigartigkeit
verloren. Und das ist ein Glück für Marxens Nachruhm. Gleichzeitig mit dem Aufstieg der französischen und
griechischen Sozis nämlich vollzog sich ein dramatischer Abstieg der österreichischen. Die einstige
Versuchsstation einer rosaroten Weltidylle mit dem respektgebietenden "Kaiser Bruno" Kreisky an der
Spitze gleicht heute eher der Gesellschaft bankrotter Verschwender.
"Österreichs Traum ist
ausgeträumt", freute sich die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Der Wiener Nationalbankpräsident Stephan
Koren drückt dasselbe intellektueller aus: "Selbst unser ungeheuer entwickeltes Verdrängungspotential muß
heute zwangsläufig versagen."
Während andere Völker im vergangenen Jahrfünft kürzertreten
mußten, hatte Österreich die Weltwirtschaftskrise auf rein gymnastische Weise bewältigt: durch
Wegschauen. Unbekümmert vom Ölschock und weltweiter Arbeitslosigkeit spielte es die Insel der Seligen, wo
die Fabrikwelt noch heil, der See noch sauber, die Kriminalität noch ein angenehmes Plauderthema ist.
"Österreich ist die Nummer eins in Europa", beharrte die sozialistische Propaganda bis zuletzt.
Um ja nicht sparen zu müssen, nahm Kreiskys Finanzminister immer neue Riesenkredite auf. "100 Millionen
Schilling (14,25 Millionen Mark) Schulden sind mir lieber als 100 Arbeitslose", pflegte der Kanzler
locker zu wiederholen. Er meinte, die tüchtigen Bundesdeutschen würden ihre Wirtschaft gar bald in
Ordnung gebracht haben und anschließend - wie schon mehrmals in der Vergangenheit - auch das kleine
Nachbarland mitzuziehen.
Als die Wiener Regierung endlich begriff, daß sogar die Deutschen
lahmten, war es Sommer 1981 und zu spät.
Die Ernüchterung kam mit einer schier endlosen Serie
spektakulärer Firmenpleiten, die 16 900 Arbeitsplätze kosteten. Den Anfang der insgesamt 1465 Konkurse
und Vergleiche mit einer Schadenssumme von 2,4 Milliarden Mark machte die Elektro- und Kamerafabrik
Eumig, die stets als Paradeunternehmen der rotweißroten Privatindustrie gegolten hatte. Ihr folgten der
Skigigant Kneissl, der führende Holzplattenhersteller Funder und die Österreichische Klima-Technik, eine
angesehene Firma, die die Weltraumfenster für das Spacelab-Projekt der Nasa fertigte.
Sogar
der alteingewurzelten Tiroler und Vorarlberger Textilindustrie ist der Faden gerissen. Firmen wie Ganahl,
Herrburger & Rhomberg sowie Jenny & Schindler dürften, wenn überhaupt, nur durch Subventionen in
Millionenhöhe überleben.
"Da haben wir das Resultat einer komplett verfehlten
Wirtschaftspolitik", warf die Wiener "Presse" der Regierung S.93 vor. "Pump allein ist eben keine aktive
Konjunkturpflege."
Es half dem Kanzler Kreisky wenig, daß er die pleite gegangenen
Firmenbesitzer wegen ihres angeblich luxuriösen Lebenswandels angriff und behauptete, sie hätten "halt
zuviel Geld in ihre Reitställe gesteckt".
Bald zeigte sich: Den Staatsbetrieben ohne Reitpferd
geht's genauso schlecht.
Österreichs verstaatlichte Industrie - die relativ größte eines
westlichen Landes, erklärtes Vorbild noch obendrein für Frankreichs Mitterrand - liegt nahezu im Koma.
Ein interner Bericht der Dachgesellschaft ÖIAG bezeichnet die Lage schlichtweg als "katastrophal". Das
gilt nicht nur für die Vereinigten Edelstahlwerke (VEW) mit 25 326 Beschäftigten. Das gilt auch für das
weitaus größte österreichische Industrieunternehmen, den Vöest-Alpine-Konzern mit 79 413
Arbeitsplätzen.
Die Vöest-Gießerei beispielsweise hat mittlerweile "die Grenze erreicht, ab
der es das Gesamtunternehmen billiger kommt, die Produktion bei Weiterzahlung der Bezüge für die 6000
Beschäftigten einzustellen".
Allein in der ersten Hälfte 1981 schafften die Staatsbetriebe
einen Verlust von 386 Millionen Mark. Die Gesamtbilanz 1981 wird die bisher schlechteste sein. Realisten
meinen, daß von den 113 000 Beschäftigten des Staatssektors gut 30 000 überflüssig sind. Ohne teure
Kapitalspritzen für die kranken Industrie-Riesen geht nichts weiter.
Doch woher nehmen? Es
gibt kaum noch Reserven. Die Staatsschulden sind in den fast zwölf Jahren SPÖ-Regierung von 10 auf gut 40
Millarden Mark gestiegen, von 1975 bis 1981 um das Zweieinhalbfache. Mit den Ländern, Gemeinden und
Sondergesellschaften des Bundes macht die derzeitige Verschuldung der öffentlichen Hand über 60
Milliarden Mark aus. Jeder Österreicher steht mit rund 8100 Mark in der Kreide. "Manche Nationalökonomen
befällt das Gruseln", merkte das Wirtschaftsmagazin "Trend" an.
Das "Horrorbudget 1982"
(Stephan Koren) sieht ein neuerliches Defizit von 8,6 Milliarden Mark vor und dürfte trotzdem "weit von
der Realität entfernt sein", warnte der "Kurier".
Steuererhöhungen andererseits verbieten sich
von selbst. Der Anteil an Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen liegt ohnehin bereits bei 41 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts.
Kurz, das einstige Modell Österreich hat unübersehbar
abgewirtschaftet. Sogar der Kanzler gibt zwangsläufig zu, daß sich die Alpenrepublik "mitten in einer
schweren Krise" befinde.
Akut gefährdet erscheinen da plötzlich auch die Haupterrungenschaften
des vielbewunderten "österreichischen Wegs":
* Für 1982 wird mit 4,1 Prozent Arbeitslosen
gerechnet, wenig im westeuropäischen Schnitt, aber viel für Österreich, wo die Vollbeschäftigung bisher
als praktisch garantiert galt. "Die Betriebsfamilie bricht auseinander", klagte das Industriellenblatt
"Kurier". "Heimische Unternehmer wollten nie Kapitalisten sein, die beim leisesten Lüfterl, auf den
Gewinn schauend, ihre Arbeiter freisetzen. Nun sehen viele keinen Ausweg mehr und resignieren."
* Der totale Versorgungsstaat ist am Ende. Für zusätzliche Wohlfahrtsextras, seien sie noch so wichtig,
ist kein Geld da. Das trifft besonders die Arbeitslosen, die in Österreich um vieles kürzer gehalten
werden als in der Bundesrepublik.
* Der exemplarische soziale Frieden schwindet. Niemand wagt
zu hoffen, daß die Streiks pro Kopf und Jahr auch künftighin, wie in der Vergangenheit, nur Minuten
ausmachen. Die Konfrontation zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern wird von Mal zu Mal härter - beide
Gruppen kämpfen mit dem Rücken zur Wand.
Zum erstenmal seit ihrem Amtsantritt 1970 wirkt die
Regierung Kreisky ideenlos, kopflos, hilflos. Ihr ursprünglicher Erneuerungseifer ist im kurzfristigen
Sicherheitsdenken erstarrt. Nach dem Motto "Nach mir die Sintflut" geht es ihr offenkundig allein darum,
das wirtschaftliche Desaster bis zum nächsten Wahltermin im Frühjahr 1983 bestmöglich zu drapieren.
Rund um den nunmehr fast 71jährigen, kranken Kreisky agiert müde ein Team, das schon längst keins
mehr ist. Seine großen Persönlichkeiten - Gewerkschaftsbund-Präsident Anton Benya, Justizminister
Christian Broda, Wissenschaftsministerin Hertha Firnberg - sind gleichfalls um die 70. Und wer in der
zweiten Reihe steht, gehört ganz offenkundig dorthin.
Um wenigstens den Eindruck des Regierens
zu erwecken, präsentierte der Kanzler dieser Tage ein staatliches Ankurbelungsprogramm für die
Wirtschaft, das "19 000 bis 23 000 Arbeitsplätze" schaffen soll. Große Hoffnung knüpft niemand daran. "Es
handelt sich", urteilt die ÖVP-nahe Grazer "Kleine Zeitung", "nicht um einen massiven Investitionsstoß,
sondern bloß um ein Investitionsstößerl."
Das weiß natürlich auch Kreisky selbst. Daher greift
er aus Ablenkungsgründen nach den altbewährten Unterhaltungsthemen der österreichischen Innenpolitik: Uno
und Atom.
Das ad acta gelegte, weil allzu monströse Kongreßzentrum der Wiener Uno-City für
5900 Personen wird nun doch gebaut, das fertige, aber nie eröffnete Kernkraftwerk Zwentendorf soll S.94
nun doch aufgesperrt werden. Für letzteres kündigte Bundeskanzler Kreisky eine neuerliche Volksabstimmung
nach "behutsamer Aufbereitung der Menschen" an.
"Kaiser Brunos" Strategie ist ebenso clever
wie durchsichtig: Die beiden Schocker scheinen geeignet, den Vorwurf der Opposition zu entkräften, daß
sein Kabinett "nicht regiert, sondern bestenfalls improvisiert" (so ÖVP-Chef Alois Mock).
Wie
sollte dieses Kabinett aber beispielsweise auch stoppen, was Bundespräsident Rudolf Kirchschläger den
"Verfall der demokratischen Gepflogenheiten" genannt hat?
Der SPÖ-Apparat ist durch die lange
Machtdauer bis an seine Wurzeln korrumpiert. Die Schmiergeld-Orgien beim Neubau des Wiener Allgemeinen
Krankenhauses haben lediglich einen winzigen Zipfel der allgemeinen Bestechung und Bestechlichkeit
sichtbar gemacht.
Ohne sonderliche Übertreibung vergleicht das Magazin "Profil" die
österreichische Beamtenlandschaft mit einem "düsteren Hochmoor: In Sümpfen und sauren Wiesen wuchern die
Korruptionsgewächse, und darüber kreisen Aas- und Pleitegeier".
SPÖ-Theorie und SPÖ-Praxis
klaffen meilenbreit auseinander. In der Funktionärssschicht sind Ämtermultis und Gewerkschafter typisch,
denen die Vertretung des kleinen Mannes Riesengehälter einbringt.
Auch linke Intellektuelle
möchten gern in noblen Hofratswohnungen leben, im Hotel Sacher speisen und ihre Prominenz durch niedrige
Autonummern sichtbar machen. Österreichs Sozialdemokratie verbürgerlicht im schlechten Sinne, nämlich
unter Negierung all dessen, was ehemals als Bürgertugend galt: Sparsamkeit, Bescheidenheit und Fleiß.
Da ist weiter der internationale Prestigeverlust Wiens, der sich nicht zuletzt im unfreiwilligen
Abtreten von Uno-Generalsekretär Kurt Waldheim manifestiert. Vorbei die Zeiten, da Kanzler Kreisky -
einer der wenigen Staatsmänner mit Phantasie und Mut zu unorthodoxen Lösungen - Österreich quasi im
Alleingang zu außenpolitischer Aufwertung verhalf. Heute fehlen ihm dazu die geeigneten Partner wie
Nixon, Carter, Sadat, auch Willy Brandt.
Zum Nord-Süd-Gipfel nach Cancun, den er selbst
angeregt hat, konnte Kreisky wegen Lungenentzündung nicht fahren. Seine Nahost-Offensive hat den
Österreichern bislang nichts eingebracht als palästinensische Terrorkommandos, die in Wien den
SPÖ-Stadtrat Heinz Nittel erschossen und vor der Synagoge ein Blutbad anrichteten.
Als dann
noch Arafat über die Ermordung des Kreisky-Freundes Sadat in Triumphgeheul ausbrach, war der Kanzler
schwer enttäuscht.
Selbst seiner liberalen Flüchtlingspolitik kann sich Kreisky nicht mehr
rühmen: Eine Woche vor Ausrufung der Militärdiktatur in Warschau hat er für polnische Staatsbürger
Visumzwang eingeführt.
Wichtiger aber: Der alte Mann, zunehmend griesgrämiger und am Alter wie
am Mißerfolg sichtlich leidend, hat seine Nachfolge nicht geregelt. "Kreiskys Rock, Kreiskys Schuhe
passen keinem von uns", klagte SPÖ-Fraktionschef Heinz Fischer.
Weder für den Sessel des
sozialistischen Parteivorsitzenden noch fürs höchste Regierungsamt steht ein akzeptierter Kandidat
bereit. Vielmehr war "Kaiser Bruno" pedantisch darum bemüht, jeden denkbaren Kronprinzen rechtzeitig
abzuservieren. Ex-Unterrichtsminister Leopold Gratz, heute gerade noch Wiener Bürgermeister, und
Ex-Finanzminister Hannes Androsch, heute Chef der Großbank CA, verschwanden nacheinander im Out. Übrig
blieb ein Vizekanzler ohne Ehrgeiz - der sympathische Fred Sinowatz, ein Kroate aus dem Burgenland, der
dem Alten nie und nimmer die Show stehlen wird.
So haben Land und Partei Angst vor dem
Abtreten Kreiskys, der sich erst im Mai für oder gegen eine neuerliche Kandidatur entscheiden will. Seit
Monaten rollt die "Bruno-bleib-Welle". Am liebsten würden die Genossen ihren Chef anflehen, auch
fürderhin nach Monarchenart zu regieren.
Trotz alledem darf die SPÖ den nächsten Wahlen
getrost entgegensehen. Denn bislang war die rechte ÖVP nicht in der Lage, das Tief der linken
Dauerregierer zu nutzen. "Sie betreibt mehr Wechselkurs als Kurswechsel", nörgelte die "Kleine
Zeitung".
Meinungsumfragen bescheinigen den Sozialisten, daß sie zwar im Moment unter der
50-Prozent-Marke liegen, aber Chancen haben, die Mehrheit noch ein viertes Mal zu erschnaufen. Sonst
werden sie in Koalition mit der willfährigen Freiheitlichen Partei weiterregieren.
Kreisky
versucht, bislang offenbar mit Erfolg, dem verstörten Volk einzureden, daß seine SPÖ die "bessere Partei
für schlechte Zeiten" sei.
"In Zeiten wie diesen", befiehlt ein typisches Wiener SPÖ-Plakat,
solle man "nicht herumreden, nicht schimpfen, nichts Unmögliches versprechen, nicht unsinnige Fragen
stellen"."
DER SPIEGEL 3/1982
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14337288.html