WIFO-Leiter Karl Aiginger: Europa hat die Chance, ein vorbildliches Wirtschaftsmodell zu erarbeiten
Anlässlich der vom Institute of New Economic
Thinking organisierten INET-Konferenz in Toronto, zu der Ökonomen und
Ökonominnen aus allen Weltregionen eingeladen waren, um neue
ökonomische Denkmodelle zu entwickeln, hat WIFO-Leiter Karl Aiginger
Elemente einer erfolgreichen Weiterentwicklung des europäischen
Wirtschafts- und Sozialmodells skizziert.
Historisch - so Aiginger - ist der europäische Integrationsprozess
eine einmalige Leistung, da in einem knappen halben Jahrhundert ein
konfliktbeladener Kontinent geeint wurde: 28 Länder gehören heute der
Europäischen Union an, und mindestens 10 Länder suchen eine neue
Beziehung zur EU. Allerdings deckte die Finanzmarktkrise auch die
Schwächen der Union auf. Die Wirtschaft entwickelte sich schwächer
als in vergleichbaren Regionen. Die Vorbedingungen der Währungsunion
waren ignoriert worden, nationale Egoismen dominieren in der
Aufarbeitung, trotzt hoher Steuerlast stiegen staatliche Defizite und
Verschuldung, und die Ungleichgewichte zwischen den Ländern
vergrößerten sich.
Europa prosperierte aber immer dann, wenn es durch ein einigendes
Projekt getragen wurde (die Schaffung von Frieden nach den
Weltkriegen, Durchbrechung alter Grenzen, dann wirtschaftliche
Integration, Schaffung von Binnenmarkt und Währungsunion). Heute
fehlt eine solche einigende Vision, die helfen würde, wirtschaftliche
Schwierigkeiten und nationale Rückfälle in eine langfristige
Perspektive zu stellen. Das neue Ziel Europas sollte es sein, ein
Gesellschaftsmodell zu entwerfen und zu verwirklichen, welches für
wohlhabende Regionen attraktiver ist als sowohl das asiatische als
auch das nordamerikanische Modell und so weltweit als Vorbild dienen
kann. Die EU beschreitet diesen Kurs in Ansätzen in ihrer Strategie
"Europa 2020". Wie allerdings die Zwischenbilanz zeigt, wird der
Großteil der für 2020 selbst gesteckten Ziel ohne zusätzliche
Anstrengungen nicht erreicht.
Basierend auf den Ergebnissen des von der Europäischen Kommission
beauftragten Forschungsprojektes "Welfare, Wealth and Work for Europe
-
WWWforEurope" vertrat Aiginger die Meinung, dass sowohl für die
eigene Bevölkerung als auch für Beobachter aus anderen Kontinenten
die Vorteile des europäischen Modells nicht immer erkennbar sind und
die EU sie gegenwärtig auch nicht stärkt und weiterentwickelt. Der
europäischen Politik sei es im letzten Jahrzehnt nicht gelungen, eine
Visionen der europäischen Position in der globalisierten Welt des
Jahres 2050 zu entwickeln.
Aiginger definiert fünf Voraussetzungen für eine Stärkung der
Dynamik in Europa: Stabilisierung des Finanzsektors, Reformen und
Schaffung von Industriezonen in Südeuropa, Stärkung der
Investitionsnachfrage und des Inlandskonsums durch Reformen des
Steuersystems, Forcierung von Innovationen, Qualifikation und
Betriebsgründungen sowie Nutzung der dynamischen Entwicklung der
Weltwirtschaft, aber auch der Nachbarländer der EU.
Durch verstärkten Einsatz von Umwelttechnologien, gezielte
Maßnahmen zur Qualifizierung und Senkung der Arbeitslosigkeit von
Jugendlichen, eine Förderung des Unternehmertums und
Lohnsteuersenkungen können noch ungenutzte Wachstumspotentiale
gehoben werden. Sozialer Ausgleich und ökologische Ziele sind
demnach, wenn sie auf Innovationen und höchster Qualifikation der
Arbeitskräfte beruhen, keine Belastung, sondern Wachstumsfaktoren,
die die Wettbewerbsfähigkeit der EU stärken können. Die Antwort auf
niedrige Lohnkosten in neuen Industrieländern und niedrigere
Energiepreise in den USA liegt primär in einer Steigerung von
Produktivität und Effizienz und einer Verbesserung der Qualifikation
der Bevölkerung und der EU-Institutionen. Weitere ungenutzte
Wachstumspotentiale liegen in einem konsequenteren Kampf gegen
Steuerhinterziehung, der Stabilisierung des Finanzsystems durch
Einführung einer Finanztransaktionssteuer, Kosteneinsparungen und
Effizienzsteigerung durch internationale Kooperation in Teilen der
öffentlichen Verwaltung. Die Umlenkung der Subventionen für fossile
Energieträger zur Steigerung der Energieeffizienz, die Nutzung
alternativer Energieträger und entschiedenere Maßnahmen zur
Verringerung von Korruption könnten die Beschäftigung erhöhen und die
Jugendarbeitslosigkeit senken.
Nach vielen Kriterien ist der "europäischen Weg" auch heute schon
nachweisbar erfolgreich. Die EU weist im Gegensatz zu den USA kein
Außenhandelsdefizit auf. Die technologiegetriebenen Exporte der EU
sind mit 530 Mrd. Euro bereits doppelt so hoch wie jene der USA und
auch in Relation zum Gesamtexport höher als in den USA,
Energieeffizienz und Ressourcenverbrauch sind relativ zur
Wirtschaftsleistung niedriger, und auch die Einkommensungleichheit
ist in der EU niedriger als in den USA.
Allerdings bestehen laut Aiginger auch wesentliche Barrieren für
die Umsetzung einer solchen Strategie, und es gibt immer wieder
Rückschläge. Zu den Barrieren zählen das Fehlen von institutionellen
Regelungen auf EU-Ebene hinsichtlich Bankenkonkursrecht und
Schuldenerlass sowie in einigen EU-Ländern die Einschränkung des
wirtschaftspolitischen Handlungsspielraumes durch die hohe
Staatsverschuldung.
Die Länder der EU sind laut Aiginger auch immer noch wenig
effizient in der Erreichung ihrer selbstgesetzten Ziele. So nahm
trotz der Staatsausgabenquote von 50% des BIP im EU-Durchschnitt die
Ungleichheit zwischen gut und schlecht Verdienenden ebenso wie
zwischen den Geschlechtern in der Wirtschaftskrise der letzten Jahre
zu; 25% der unter 14-Jährigen sind Analphabeten, das Gesundheitswesen
sieht präventive Maßnahmen in viel zu geringem Ausmaß vor. und der
technologische Wandel senkt zwar die Arbeitskosten, verringert aber
kaum den Einsatz natürlicher Ressourcen und steigert auch die
Energieeffizienz zu wenig. Die EU gibt der Jugendbeschäftigung,
leistbarem Wohnen und der Geschlechtergerechtigkeit eine zu geringe
Priorität. Zu den positiven Anzeichen zählen hingegen die
Entkoppelung des Wirtschaftswachstums vom Ressourcenverbrauch in
Dänemark sowie die steigende Nutzung von erneuerbarer Energie in
vielen Teilen EU-Ländern.
Mit steigendem Einkommen werden neben materiellen Zielen im
engeren Sinn die Gestaltung der Gesellschaft, Work-Life Balance,
gesellschaftlicher Zusammenhalt, Gesundheit und Umweltschutz immer
bedeutendere Ziele für die Bevölkerung. In den meisten dieser Ziele
hat die EU gute Ansätze, die sie im eigenen Interesse
weiterentwickeln muss. Zugleich kann die EU damit zu einem Vorbild
für Länder mit wesentlich niedrigerem Einkommensniveau werden und
damit helfen, Fehlentwicklungen zu korrigieren, bevor deren Kosten zu
hoch werden. Voraussetzungen sind die Entwicklung einer Vision, die
Beseitigung der Barrieren zu ihrer Umsetzung und die konsequente
Verfolgung der Ziele im eigenen Bereich.
Prof. Aiginger stützte sich in seinem Vortrag auf Ergebnisse des
Forschungsprojektes "Welfare, Wealth and Work for Europe -
WWWforEurope", das von der Europäischen Kommission im 7.
Rahmenprogramm beauftragt wurde. Das WIFO erarbeitet in diesem
Projekt gemeinsam mit 32 europäischen Partnern die analytischen
Grundlagen für eine neue europäische Wachstumsstrategie, die eine
sozial-ökologische Transformation zu hoher Beschäftigungsquote,
Geschlechtergleichheit und ökologischer Nachhaltigkeit ermöglicht.
Das Institute for New Economic Thinking (INET), ein von George Soros
finanziertes weltweit operierendes Netzwerk, unterstützt einen Wandel
des vorherrschenden ökonomischen Denkens. Prominenteste Vortragende
auf der Konferenz waren die Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz,
Amartya Sen und James Heckman.